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Eine Kritik des Aufrufs zur Kundgebung „Nein zur Annexion“

von: Redaktion


Unter dem Titel „Nein zur Annexion“ ruft eine gleichnamige Gruppe über verschiedene Kanäle – darunter auch Münster Alternativ – zu einer gleichnamigen Demonstration gegen die Pläne Benjamin Netanjahus und der Likud auf, die israelische Souveränität zu erweitern. Der Aufruf zur Kundgebung steckt dabei voller Verzerrungen, Ideologie und teilweise blanken Lügen. Diese sollen im Folgenden entlarvt und kritisiert werden:


„Durch den neuen Koalitionsvertrag der israelischen Regierung hat Ministerpräsident Netanjahu seit dem 1. Juli die Möglichkeit, dem israelischen Parlament (Knesset) die Annexion der Besetzten Palästinensischen Gebiete (oPt) vorzuschlagen. Momentan wartet die Regierung nur noch das OK von US-Präsident Trump ab. Die Annexion wird möglich durch die Unterstützung der faschistoiden Trump-Regierung und durch ein weiteres Abdriften der Mehrheit der jüdisch-israelischen Bevölkerung in eine national-konservative und rechts-radikale politische Position. In diesem Klima ruft die palästinensisch-israelische Linke, die zwar sehr schwach, aber doch vorhanden ist, zu Protesten auf, um gegen den Völkerrechtsverstoß, den eine de jure Annexion der besetzen Gebiete bedeuten würde, zu mobilisieren.“


Die Darstellung der aktuellen Lage in Israel ist falsch. Keineswegs ist die Umsetzung der Pläne bereits ohne Weiteres möglich. Aktuell berät die Knesset bereits darüber, ob eine Annexion auf alleinige Empfehlung Netanjahus hin überhaupt möglich wäre oder ob eine solche auch die Zustimmung des zweiten Ministerpräsidenten Benny Gantz bedarf – dieser würde den Plänen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zustimmen. Keineswegs handelt es sich um ein Vorgehen der israelischen Regierung, gegen das nur die „palästinensisch-israelische“ Linke sich ausspräche. Vielmehr sind Netanjahus Pläne in Israel sehr umstritten, wie ein kurzer Blick in die gängigen englischsprachigen Tages- und Wochenzeitungen (bspw. Jerusalem Post, Haaretz) zeigen würde. Auch ist die Einteilung der komplexen und sehr pluralen israelischen politischen Landschaft in ein simples Links-Rechts-Schema, das mit ‚Unterdrückern‘ und ‚Unterdrückten‘ gleichgesetzt wird in Israel noch weniger aussagekräftig als beispielsweise in Deutschland. Linker Antisemitismus ist kein Widerspruch.[1] Auch ist Israel ein souveräner Staat und in seinen Entscheidungen nicht abhängig von den USA – Netanjahu ist auch nicht etwa Trump ‚hörig‘ wie es die obige Formulierung nahelegt. Eine solche Ansicht bedient das alte Ressentiment, demzufolge Israel nur der „imperialistische Brückenkopf“ der USA sei und beide an einer Bearbeitung der Welt zu ihren Gunsten arbeiten würden.[2] Dem widerspricht allein, dass die Gründung Israels in diesen (zu einfachen) Denkmustern selbst ein antikolonialer Akt gewesen sein müsste, der die Selbstbestimmung von Jüdinnen und Juden ermöglichte.

Schließlich ist auf den Vorwurf der Völkerrechtsverletzung einzugehen, der immer wieder gegen Israel und seine Siedlungspolitik erhoben, dadurch jedoch nicht wahrer wird. Artikel 49 der Genfer Konvention verbietet nämlich lediglich, dass ein Staat absichtsvoll „Teile [seiner] Zivilbevölkerung in das von ich[m] besetzte Gebiet deportier[t] oder umsiedel[t]“[3] – was Israel nicht tut. Allein der Begriff der Besatzung ist in diesem Kontext bereits problematisch, da weder das Westjordanland noch Ostjerusalem jemals Teil eines palästinensischen Staates waren, sondern früher dem Britischen Madatsgebiet bzw. dem Osmanischen Reich angehörten. Beide Staaten existieren nicht mehr. Jordanien, das das Gebiet nach dem Unabhängigkeitskrieg besetzte, annektierte es so gesehen unrechtmäßig von dem nach UN-Teilungsplan geplanten arabischen Staat, der aber unter anderem aufgrund dieser Annexion nie zustande kam.[4] Nach Völkerrecht kann also argumentiert werden, dass es sich nicht um besetzte, sondern vielmehr um umstrittene Gebiete handelt. Ein palästinensischer Staat hat nie existiert und existiert auch heute nicht.

„Die Annexion ist nur der aktuellste Schritt der voranschreitenden Vertreibung und Entrechtung der Palästinenser*Innen, trotzdem gibt sie offiziell grünes Licht, die Aneignung palästinensischen Landes auszuweiten und dem angestrebten jüdischen Großisraelischen Staat einen weiteren Schritt näher zu kommen. In diesem Kontext möchten wir zu einer Kundgebung aufrufen, um uns mit den Palästinenser*Innen und ihrem anti-kolonialen Widerstand zu solidarisieren. Natürlich nehmen wir die besonderen Umstände vor der Israelischen Staatsgründung zur Kenntnis. Aber wir sind der Meinung, dass diese Umstände keinen siedlerkolonialistischen Militärstaat und keine rassistische Polizei- und Militärgewalt gegen Palästinenser*Innen und auch keine apartheidsähnlichen Strukturen und Bantustans rechtfertigen.“


Satz für Satz: Mit der „voranschreitenden Vertreibung und Entrechtung“ wird Bezug auf die Nakba genommen, die „große Katastrophe“ der Palästinenser. Tatsächlich kam es im Zuge des Unabhängigkeitskrieges zu Vertreibungen und Massakern an arabischen Bewohnern des britischen Mandatsgebietes. Der Großteil der Menschen, die das heutige israelische Kernland damals verließen, tat dies aber auf Anraten der fünf arabischen Staaten, die nur wenige Stunden nach Beschluss des UN-Teilungsplans Israel den Krieg erklärten.[5] Im Zuge von Kriegen und Bedrohungen wie dem Unabhängigkeitskrieg und dem Sechs-Tage-Krieg, die von der Gegenseite immer mit dem Ziel geführt wurden, einen jüdischen Staat Israel und seine jüdische Bevölkerung zu vernichten, leistete Israel Widerstand. Viele der heute umstrittenen Gebiete, zu denen auch die Golanhöhen zählen, sind militärstrategisch wichtige Punkte, die Israel nicht besetzt, um sich auszudehnen, sondern um sich vor der realen Bedrohung, die nach wie vor bspw. von der Hizbollah im Libanon, vom Iran oder anderen Nachbarstaaten oder auch der Hamas und der PLO ausgeht, zu schützen. Das Gerede von einem „angestrebten Großisraelischen Staat“ sitzt einer Verschwörungstheorie auf – ein solcher wird nirgendwo von Regierungsseite aus offiziell angestrebt.[6]

Der Kampf der Palästinenser ist kein „antikolonialer Widerstand“, sondern war und ist immer mit dem Ziel einhergegangen, Israel als jüdischen Staat zu vernichten. In Israel leben arabische und jüdische Bürger*innen (wie alle anderen Religionsgemeinschaften) gesetzlich gleichgestellt. Sowohl die Hamas als auch die PLO machen keinen Hehl daraus, dass es ihnen allein darum geht, keinen jüdischen Staat zu tolerieren – davon zeugen allein beliebte Parolen wie „From the river to the sea – Palestine will be free“. Eine Zwei-Staaten-Lösung scheiterte in der Vergangenheit nicht am Unwillen israelischer Regierungen als vielmehr an der Maxime der palästinensischen Terrororganisationen, die lediglich eine „Kein-Staat-Israel-Lösung“ zu akzeptieren bereit waren. Auf den Abzug israelischer Truppen aus dem Gazastreifen folgte deshalb auch kein Appeasement von Seiten der Hamas, sondern eben eine Zunahme von Terroranschlägen aus dem Gazastreifen, die allein deshalb schon kein ‚Widerstand‘ sein kann, weil sie sich nicht gegen institutionelle Ordnungen richtete, sondern die wahllose Tötung von Zivilist*innen als probates Mittel ansah. Der „antikoloniale Widerstand“ entpuppt sich immer wieder als simpler Terror, der sich gegen den Staat Israel als solchen richtet und somit auf die Vernichtung des Schutzraums zielt, den der israelische Staat gegen den internationalen Antisemitismus und die jahrtausendelange Verfolgung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden darstellt.

Allein deshalb handelt es sich bei der Aussage, man nehme die „besonderen Umstände vor der israelischen Staatsgründung“ zur Kenntnis um ein reines Lippenbekenntnis. Nicht einmal von der Shoah, die wesentlich anderes war als nur „besondere Umstände“, ist die Rede. Die Staatsgründung sowie die mit dieser einhergehenden Kriege, die immer von dem Wunsch nach Beseitigung der Juden aus dem Nahen Osten geprägt waren und somit die Fortsetzung eines Vernichtungsprojektes darstellten, werden in ihrer Historie einfach ignoriert. Der jüdische Staat ist eben kein Staat wie jeder andere, sondern in seiner historisch einmaligen Rolle zu sehen, in der er auch als selbstbestimmter und souveräner Schutzraum für jüdisches Leben fungiert. Israel als jüdischen Staat aufzulösen bedeutet mindestens, Jüdinnen und Juden wieder in die Diaspora zu treiben und anderen Souveränen zu unterwerfen, die ihnen jahrtausendelang nicht wohlgesonnen waren. Israel wird hier als Staat ohne Historie verstanden, es wird von allen historisch-gesellschaftlichen Umständen vom Unabhängigkeitskrieg über den Sechs-Tage-Krieg bis hin zur ersten und zweiten Intifada und den Versuchen einer Zwei-Staaten-Lösung seitens Israels abgesehen und einfach in gute Palästinenser und böse Israelis unterteilt.

Zu dieser Verkürzung und diesem historischen Unbewussten gilt auch, Israel mit einem Apartheidsstaat gleichzusetzen. Dies sieht erneut davon ab, dass israelische Staatsbürger – im Gegensatz zu denen des apartheidlichen Südafrika – gesetzlich gleichgestellt sind. Israel der Apartheid zu bezichtigen ist nicht nur faktisch falsch, sondern relativiert zudem die Bedeutung der Apartheid und ihre Verbrechen.[7]

„Wenn wir als linke Bewegung in jedem Kampf auf der Seite der Unterdrückten stehen wollen, dann müssen wir uns mit dem indigenen Widerstand der Palästinenser*Innen solidarisieren. Zu dieser politischen Lage, die uns auf die Straße treiben muss, kommt hinzu, dass wir in Deutschland im Generellen, aber vor allem auch in der deutschen linken Bewegung einen starken anti-palästinensischen Rassismus erleben, der unter anderem auch anti-muslimischen Rassismus reproduziert. Auch aus diesem Grund, und aus unserem anti-rassistischen Selbstverständnis, möchten wir eine Veranstaltung schaffen, in der palästinensische Stimmen einmal nicht übergangen und marginalisiert werden.“


Eine Linke, die allein in Unterdrücker und Unterdrückte zu unterscheiden vermag, ist Begriffslos. Unterdrücker ist dann immer der, der mehr Macht besitzt. Dass – global gesehen – der jüdische Staat wie auch seine Individuen durchaus ständiger Verfolgung und Vernichtungsdrohungen ausgesetzt ist, würde nach dieser Logik die simple Unterscheidung sprengen. Vielmehr zeigt sich die Linke hier aber von ihrer ideologischen Seite: allein der Begriff der „Indigenen“ ist vielfach problembehaftet: Abgesehen davon, dass die Frage, wer dieses Land im Nahen Osten ‚ursprünglich‘ bewohnte absolut unbeantwortbar ist, ist sie auch nicht zielführend, da es sich bei dieser Frage um einen Anachronismus handelt. Die Vorstellung von Indigenität geht immer auch mit einer Volksideologie einher. Imaginiert wird die homogene Masse der Palästinenser, die ein angestammtes Recht auf „ihr“ Land habe – in dem unausgesprochen klar ist, dass es dort keinen Platz für Jüdinnen und Juden gibt, die nicht zu diesem indigenen Kollektiv zählen. Während es für den Israelischen Staat völlig unstrittig ist, dass auch ‚indigene‘ Araber, Äthiopier und Europäer, Christen, Muslime und Atheisten in ihm gleichberechtigt leben können scheint die Vorstellung undenkbar zu sein, dass auch nur ein Jude in einem palästinensischen Staat leben darf. Ganz abgesehen davon, dass ein palästinensisches ‚Volk‘ erst seit den 1960er Jahren konstruiert wird.[8]

Es ist sicher richtig, sich mit denjenigen zu solidarisieren, die in den palästinensischen Gebieten unter fürchterlichen humanitären Verhältnissen leben. Dabei muss jedoch anerkannt werden, dass diese Verhältnisse nicht von Israel herbeigeführt werden (Israel selbst führt regelmäßig Hilfsgüter in die palästinensischen Gebiete aus), sondern wesentlich von der Hamas und der PLO, die jegliche Unterstützung seitens Israel ablehnen und diesem dann die Schuld an ihrer Misere geben. So kann es nicht verwundern, dass zunehmend mehr und mehr Palästinenser*innen sich gegen diese Terrorregimes, die sie seit Jahrzehnten undemokratisch regieren, aufbegehren. In diesem Sinne sind sie Unterdrückte, die unsere volle Solidarität genießen – Free Gaza from Hamas!

Schließlich kann keineswegs die Rede davon sein, palästinensische Stimmen würden übergangen. Diese werden sehr wohl präsentiert und gehört: Von der Taz bis zur Tagesschau, auf Youtube und in den sozialen Medien finden sich zumeist mehr Personen, die „die Palästinenser“ unterstützen als „den israelischen Apartheidsstaat“. Die Diskussionen über den so genannten Nahostkonflikt stecken dabei voller Ideologeme, Anachronismen und mangelndem Wissen über die Historie und Faktizität desselben. Nur daran lässt sich eine Kritik anschließen, die nicht versucht, Rassismus und Antisemitismus gegeneinander auszuspielen, sondern sich der Utopie widmet, in der beide Ideologien der Vergangenheit angehören.

In ihrer Reaktion auf die Anmeldung und Begründung einer Gegenkundgebung wird weiterhin versucht, mit schiefen Vergleichen und Halbwahrheiten die eigene Position zu legitimieren:


Ein zentrales Problem der Argumentation, die sich nicht gegen Antisemitismus, sondern gegen Kritik am israelischen Staat richtet, ist die Gleichsetzung des Nationalstaates Israel mit dem Judentum und die daraus folgende Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus. Diese oft verwendete Verschleierung ist nicht nur gefährlich, weil sie die Solidarität mit den unterdrückten Palästinenser*innen als antisemitisch verunglimpft, sie ist im Kern selbst antisemitisch. Die vielfältige globale jüdische Community kann und darf nicht auf den Nationalstaat Israel reduziert werden. Mehr als die Hälfte aller Jüd*innen leben im Jahr 2020 außerhalb von Israel, und viele Jüd*innen fühlen sich nicht repräsentiert von Israel. Den Staat Israel mit dem Judentum gleichzusetzen, spricht denjenigen Jüd*innen, die nicht in Israel leben wollen, ab, ein legitimer und gleichberechtigter Teil der jüdischen Community zu sein. Außerdem wird impliziert, dass alle Jüd*innen wesensgleich seien, was ihre Haltung zum israelischen Staat betrifft. Vielmehr noch wird allen Jüd*innen unterstellt, Zionist*innen zu sein. Diese Pauschalisierung einer bestimmten Gemeinschaft wollen und werden wir nicht akzeptieren. Wir lehnen dies genauso entschieden ab wie die rassistische Generalisierung von Schwarzen, Araber*nnen, Muslim*innen und anderen rassifizierten Gruppen.


Die Stellungnahme des Jungen Forums, auf die sich das Bündnis beruft, setzt Antisemitismus nicht ausschließlich mit Antizionismus gleich. Vielmehr erkennt es an, dass Antizionismus, der bereits dem Begriff nach gegen einen jüdischen Staat per se richtet, eine Form des Antisemitismus darstellt, der auch als „antiisraelischer Antisemitismus“ in der Wissenschaft anerkannt ist[9] [10]: Israel als der „Jude unter den Staaten“. Selbstverständlich ist Antizionismus jedoch nicht die einzige Form des Antisemitismus, der sich gerade durch seine Wandelbarkeit auszeichnet (rassischer Antisemitismus, Täter-Opfer-Umkehr, Holocaustrelativierung, Sekundärer Antisemitismus…).[11] Von antizionistischem Antisemitismus sind oftmals auch Jüdinnen und Juden betroffen, die nicht in Israel leben, wie bspw. das Attentat auf die Synagoge in Wuppertal aus dem Jahr 2014 zeigt, das von den Tätern als „Kritik an Israel“ legitimiert wurde[12].


Ebenfalls ist die Aussage, dass in Israel alle Staatsbürger*innen die gleichen Rechte besäßen, falsch und zynisch. Falsch ist sie in Bezug auf die Palästinenser*innen innerhalb Israels, die systematisch diskriminiert werden und die seit der Annahme des Nationalstaatsgesetzes, das Israel zum „jüdischen Staat“ deklariert, auch „vor dem Gesetz“ und offiziell Bürger*innen zweiter Klasse sind - bzw. dritter oder vierter Klasse, wenn die Herrschaftsverhältnisse zwischen verschiedenen jüdischen Gruppen analysiert werden.

Zynisch ist die Aussage, weil sie verbergen will, dass Israel vor allem die Menschen terrorisiert, die keine israelische Staatsbürgerschaft haben: Einerseits sind das die Palästinenser*innen, die unter der Besatzung in der Westbank leben und außerrechtliche Erschießungen, Häuserzerstörungen, rassistische Polizeigewalt, eine militärische Grenzmauer, Drangsalierungen an den Checkpoints, jahrelange Gefangenschaft ohne juristischen Prozess und andere typische Merkmale einer militärischen Besatzung erleiden müssen. Andererseits sind auch die Palästinenser*innen, die im seit 1991 schrittweise hermetisch abgeriegelten Gazastreifen leben, immer wieder wie 2008/09, 2012 und 2014 brutalen Kriegsverbrechen und Bombardierungen ausgesetzt. Zuletzt wurden allein 183 von ihnen während des Protestmarches „Great March of Return“ an der Grenzanlage des Gazastreifens ermordet und 9,204 verletzt.


Bei diesen Aussagen handelt es sich um reine Behauptungen, die nicht belegt werden. Fakt ist: Bereits die Unabhängigkeitserklärung hält die rechtliche Gleichheit aller israelischer Staatsbürger fest.[13] Eine Ungleichbehandlung von Nicht-Staatsbürgern ist – so verwerflich sie auch ist – kein Alleinstellungsmerkmal Israels. Hier werden doppelte Standards angelegt, wenn Israel für etwas kritisiert wird, was in jedem Land Gang und Gäbe und Teil eines jeden Prozesses von nation building ist. Dieses gehört an sich selbstverständlich kritisiert, ist aber illegitim, wenn nur Israel sich hier problematisch verhalten sollte.[14] Die Bezeichnung des Konfliktes als „Terrorisierung“ der palästinensischen Gebiete ist eine Vereinseitigung des realen Problems, zu dem es viel zu sagen gäbe. Hier nur soviel: In nahezu allen Fällen bombardiert Israel nicht aktiv, sondern reaktiv. Waffenstillstände werden in aller Regel zunächst von der Hamas gebrochen, Israel reagiert auf die Bombardierung eben so, wie es jeder souveräne Staat tun würde: indem sie die Raketendepots bombardiert und terroristische Strukturen zu zerschlagen versucht. Dass diese oftmals in Gebäuden wie Schulen, Krankenhäusern und Sportstätten untergebracht sind zeigt allein die Perfidie der Hamas, nicht die der israelischen Regierung, die den Bewohnern oftmals zuvor die Bombardierung der Strukturen ankündigt.[15] Dass der „Great March of Return“ ein versuch von Terrorist*innen war, israelisches Gebiet zu bombardieren, wird auch unterschlagen.[16]

Über solche Erfahrungen von Unterdrückung, Entrechtung und Gewalt zu sprechen, einen möglichst sicheren Raum zu schaffen, in dem rassifizierte und kolonisierte Menschen ihre Stimmen erheben können, ist ein elementarer Bestandteil antirassistischer Arbeit. Das Junge Forum DIG Münster will dies "verhindern" und zeigt deutlich, dass es vor rassistischem Silencing nicht zurückschreckt. Vor allem die Gleichsetzung von palästinensischen Erfahrungen und antisemitischer Hetze ist ein typisch rassistisches Verhalten, da den Palästinenser*innen per se unterstellt wird, antisemitisch zu sein. Dass das Junge Forum DIG Münster vor dem Hintergrund keine Tabuisierung von Palästinasolidarität erkennen kann, braucht nicht weiter kommentiert zu werden...

Antisemitismus und Rassismus sollen hier gegeneinander ausgespielt werden. Anstatt die Vorwürfe des JuFo ernstzunehmen wird diesem einfach Rassismus vorgeworfen. Wo Falschinformationen verbreitet werden, die, wie gezeigt, mit antisemitischen Ressentiments und teilweise Verschwörungstheorien Hand in Hand gehen handelt es sich nicht um Silencing, sondern um notwendige Kritik. Antisemitismus aufzuzeigen, wo er auftritt, hat nichts mit Rassismus zu tun – das JuFo spricht schließlich auch nicht davon, dass Palästinenser*innen automatisch Antisemit*innen seien.


Zu dem geschilderten rassistischen, aggressiven, politischen McCarthyismus kommt das regierungstreue Vokabular, das das Junge Forum verwendet. Die „Souveränität auf Teile von Judäa und Samaria auszuweiten“ ist ein menschenverachtender Euphemismus für einen gewaltvollen Landraub in den besetzen palästinensischen Gebieten. Weiterhin lesen wir in dem Aufruf: Die Debatte um die Annexionspläne käme nicht „ohne eine Verurteilung Israels“ aus. Das ist richtig, aber auch nicht weiter verwunderlich, weil in Fällen der Verletzung des Völkerrechts und der Verhinderung des Selbstbestimmungsrechts von Völkern oder generell in jedem Unterdrückungskontext immer die verursachende Partei „verurteilt“ und kritisiert werden muss. Es ist genau die Aufgabe linker Bewegungen, sich konsequent an die Seite der Unterdrückten zu stellen sowie die Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse beim Namen zu nennen und transparent zu machen.


Siehe oben.


Schließlich endet der Aufruf mit dem klassischen „Whataboutism“, der in der deutschen Debatte analog zu der rassistischen „All-Lives-Matter“-Forderung gepflegt wird. Israel würde „dämonisiert“ und mit „doppelten Standards“ beurteilt. Das ist schlichtweg falsch. Genauso wie wir etwa den türkischen Nationalfaschismus verurteilen, verurteilen wir auch den israelischen. Anstatt Israel zu kritisieren solle sich außerdem die palästinensischen Eliten vorgeknöpft werden. Die Kritik an der korrupten palästinensischen Autonomiebehörde ist uns ein großes Anliegen. Als progressiver Zusammenschluss sind wir davon überzeugt, dass die palästinensische Befreiung nur durch einen breiten emanzipatorischen Widerstand der Bevölkerung und internationalen Druck auf die israelische Regierung erreicht werden kann.

Die palästinensischen Eliten kritisieren wir aber vor allem dafür, dass sie durch die Sicherheitskooperation mit Israel zum Leid der Palästinenser*innen beitragen. Durch das Unterdrücken demokratischer Prozesse haben sie jegliche Legitimität als Vertreter*innen der Palästinenser*innen verloren. Die Palästinenser*innen müssen sich von Ihren Eliten emanzipieren. Aber das befreit den israelischen Staat nicht von seiner Verantwortung für die jahrzehntelange Unterdrückung und Kolonisierung der indigenen palästinensischen Bevölkerung sowie es auch nichts an dem grundlegenden Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnis in diesem Kontext ändert. Es ist zudem lachhaft, Kritik an der palästinensischen Führung einzufordern und gleichzeitig jegliche Räume, in denen palästinensische Stimmen zu Wort kommen können und auch eine solche Kritik vorgebracht werden kann, anzugreifen, zu behindern und den Versuch zu unternehmen, sie zu verhindern.


Die „palästinensischen Eliten“ werden also nicht etwa dafür kritisiert, dass sie Terrorangriffe auf Israel planen, legitimieren, tolerieren und durchführen, sondern für ihre Korruption und dafür, dass sie mit Israel in einigen Belangen kooperieren. Dieser Satz zeigt bereits, inwieweit das Bündnis Israel überhaupt als einen legitimen Staat und Verhandlungspartner ansieht: gar nicht. Selbst für die Fehler der Palästinensischen Autonomiebehörde sowie der Hamas sind nicht etwa deren Ideologien verantwortlich, sondern eben die Kooperation mit Israel, die diese erst korrupt macht. Zur „Kolonisierung“ und dem Geschwafel von „Indigenität“ s.o..

[1] https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307887/antisemitismus-im-linken-spektrum [2] https://link.springer.com/article/10.1007/s11614-017-0278-2 [3] https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19490188/index.html [4] https://www.mena-watch.com/israels-souveraenitaet-und-das-voelkerrecht-teil-4-besetzte-palaestinensische-gebiete/ [5] https://www.deutsch-israelische-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2019/10/Mythos_Nakba.pdf [6] https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fisrael [7] https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/359_rechtspopulismus/apartheid [8] https://www.hagalil.com/israel/geschichte/1967-4.htm [9] https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307746/antizionistischer-und-israelfeindlicher-antisemitismus [10] https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37954/antizionistischer-antisemitismus [11] https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/ [12] https://www.tagesspiegel.de/politik/antisemitismus-in-deutschland-wie-kann-ein-anschlag-auf-eine-synagoge-nicht-judenfeindlich-sein/19572812.html [13] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Israelische_Unabh%C3%A4ngigkeitserkl%C3%A4rung#Die_Unabh%C3%A4ngigkeitserkl%C3%A4rung_des_Staates_Israel [14] http://www.hagalil.com/antisemitismus/europa/sharansky.htm [15] https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-07/gaza-israel-bombardierung [16] https://www.mena-watch.com/der-marsch-der-rueckkehr-ein-fazit/

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